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Die einfachen komplizierten Formen 
und die Einheit von freier und angewandter Kunst
2005: Jürgen Kisters in 'Zeichen'

Abb. oben Strömung, unten weitere Übersetzungen

"Einfachste Elemente. Gerade Linie, gerade schmale Fläche: hart unentwegt, sich rücksichtslos behauptend, scheinbar ‚selbstverständlich' – wie das bereits erlebte Schicksal. So und nicht anders. Gebogene, ‚freie': vibrierend, ausweichend, nachgebend, elastisch, scheinbar unbe-stimmt – wie das uns erwartende Schicksal. Es könnte anders werden, wird aber nicht. Hartes und Weiches. Die Kombination von beiden –  unendliche Möglichkeiten. Jede Linie sagt ‚ich bin da'! Sie behauptet sich, zeigt ihr sprechendes Gesicht – ,horcht'. Horcht auf mein Gesicht. Wunderbar ist eine Linie. Ein kleiner Punkt. Viele kleine Pünktchen ..." (Wassily Kandinsky, Essays)

„Es gibt Fragen, die man sieht, ohne sie sich zu stellen."   (Samuel Beckett, Schluß jetzt)

Was macht für einen Künstler den Reiz aus, die komplexe Wirklichkeit aus unendlichen Formen, einzigartigen Gestalten und immer wieder verschiedenen Dingen auf ein paar Grundelemente zu reduzieren? Ist es der Wunsch, in der gelebten Vielfalt, endlich ein bisschen Ordnung zu schaffen, damit die Verwirrung des Lebens nachlässt und einem die Welt nicht davonrutscht. Ist es das Verlangen, mitten in der Turbulenz der weit verstreuten Möglichkeiten das Gesetz von allem zu packen, wie der Physiker in einer abstrakten Formel oder der Priester in einer magischen Litanei? Ist es die anschauliche Erfahrung, dass eine Wand nicht einfach nur eine Wand ist, sondern eine bezaubernde Fläche, und eine gerade Linie, die zwei Bereiche voneinander trennt, nicht nur eine gerade Linie, und dass im Aufeinandertreffen von Linien und Flächen ein atemberaubendes Geheimnis zum Ausdruck kommt? Oder ist es schlichtweg die Überzeugung, dass all die vielen kleinen Gegenstände und Verschiedenheiten einer Struktur folgen, die unterhalb unseres bewussten Wissens unsere Wahrnehmung bestimmt? Möglicherweise ist es all das zugleich. Denn schließlich ist die Vorstellung, man könne die Kräfte, die unsere Wirklichkeit vorantreiben und zusammenhalten, auf eine einzige Erklärung bringen, ohnehin die größte Täuschung von allen. Alles ist immer viel komplizierter, und alles ist zugleich immer viel einfacher – diese Parodoxie steht im Zentrum unseres Lebens, das steht allemal fest.

Für Jochen Stankowski jedenfalls war die Entdeckung weniger elementarer Grundformen gleichbedeutend mit der Entdeckung seines gestalterischen Universums. Kreis, Quadrat, Rechteck, die gerade und die gebogene Linie, ein Pfeil – in wenigen konstruktiven Elementen lässt sich die ganze Welt ausdrücken, und ihre Möglichkeiten sind darin so unendlich wie die Möglichkeiten der Welt grenzenlos sind. Während seiner Ausbildung im graphischen Atelier seines Onkels Anton Stankowski hatte Jochen Stankowski die Ausdruckswucht der konstruktiven Gestaltungselemente erstmals richtig kennen gelernt. Und seitdem vertraut er darauf, unbeeindruckt vonn allen modischen künstlerischen Trends und zeitgeistigen Kreativkonzepten. Nicht dass er nicht neugierig auf andere künstlerische Tendenzen wäre. Doch nichts ist seiner eigenen (bildlichen) Erfahrung so nah, so stimmig wie die graphisch-konstruktive Sicht auf die Dinge. In einer Straßenflucht spürt er sogleich die Relation von Flächen. Ein Tag am Meer bringt unzählige rhythmische lineare Eindrücke hervor. Und der Blick auf einen Gegenstand schafft wie von selber die Phantasie einer spezifischen Grundform. Für ihn zeigt sich darin das Wesentliche eines Gegenstandes, einer Situation. Keineswegs bedeutet es, er wisse genau, was das Wesentliche ist. Das Wesentliche, das Unaussprechliche, es zeigt sich eben. Auch nach über vier Jahrzehnten beharrlicher kreativer Gestalt-Findungen im Bereich der konstruktiven Formen fühlt Jochen Stankowski sich selbst immer noch als ein Suchender, ein Fragender. Und bei aller gestalterischen Erfahrung ist er den Formen des Lebens, des „Wirklichen" immer wieder neu auf der Spur.

Als seinen künstlerischen Großvater bezeichnet Jochen Stankowki den russischen Suprematisten Kasimir Malewitsch (1878–1935). Dieser hatte klare konstruktiv-geometrische Formen aus der fließenden Natur herausgehoben. Er hatte die Formen sozusagen „konzentriert", indem er sie vom konkreten Gegenstand befreite. „Je weniger detailliert man etwas vorgibt, desto mehr Spielraum hat der Betrachter," so die Einsicht. Malewitsch hatte aus den Einflüssen von Kubismus und Futurismus eine abstrakte, auf geometrische Grundformen beschränkte Malerei entwickelt, die ohne den Blick auf konkrete Gegenstände ihre Kompositionen hervorbrachte, von ihm selbst in vielen Schriften erläutert, so in dem Aufsatz „Die gegenstandslose Welt", der 1927 während seines Deutschlandbesuches in der Reihe der Bauhausbücher erschien. Kasimir Malewitsch, Wassily Kandisky, El Lissitzki, Alexander Rodschenko – diese Künstler hatten die konstruktiven Formen entdeckt, die von den folgenden Generationen in unterschiedlichsten Versionen variiert wurden. Von Richard Paul Lohse (1902–1988) in der Horizontal-Vertikalen-Gliederung von Farbfeldern in modularer, serieller Anordnung. Von Victor Vasarely (1906–2003) in der systematischen Erforschung serieller Flächen-Form-Farb-Experimente. Von Max Bill (1908-1994) in der Übertragung einer mathematischen Denkweise auf die Malerei. Hatten diese Künstler die abstrakten geometrisch-konstruktiven Formen als freies Spiel jenseits konkreter Bedeutungen zur Entfaltung gebracht, bemühte sich Jochen Stankowski sehr bald schon darum, die abstrakt-konstruktiven Formen mit Bedeutung zu verknüpfen.

Die Idee der reinen Form, die von den Suprematisten, Konstruktivisten und ihren künstlerischen Nachfahren propagiert wurde, hatte Jochen Stankowski nie interessiert. Es gibt keine reine Form. An jeder Form klebt immer eine Empfindung, auch wenn es nicht für jeden Menschen immer die selbe Empfindung ist. „Die Form ist nur Vermittlerin für die Empfindung," weiß er. Die Empfindung soll für ihn aber nicht wie bei Malewitsch im völlig freien Raum schwingen, sondern auf die Spur konkreter Bedeutungen geraten. Hatten die Konstruktivisten und Suprematisten um Malewitsch, beflügelt vom Geist der russischen Revolution, die utopische Idee einer neu zu bauenden Welt und eines neuen Menschen im Sinn, bezieht Jochen Stankowski die Formen seiner Kompositionen auf die alte Welt, die bestehende Welt. „Wo Malewitsch die Formen befreien wollte, will ich sie anwenden," bringt er sein Konzept auf einen einzigen Satz. Oder wie sein Onkel Anton Stankowski es nannte: „Konstruktive Kunst ohne Dogma." Von Anfang an sah Jochen Stankowski keine grundsätzliche Trennung zwischen der freien und der angewandten Formfindung. Und so macht es für ihn keinen Unterschied, ob er den Blick auf eine Naturlandschaft zu einer konstruktiven malerischen Komposition abstrahiert (Beispiel unten) oder ob er eine Gebrauchsgraphik für Radiowellen (Beispiel unten)  entwickelt. „Es ist doch dieselbe Wirklichkeit, auf die ich mich beziehe," erklärt Jochen Stankowski. Die selbe äußere und dieselbe innere Wirklichkeit, die beide gleichfalls nicht voneinander zu trennen sind. Ihn frappiert das hartnäckige Verlangen vieler Zeitgenossen, das eine vom anderen trennen zu wollen, als hörten die Form oder die Farbe auf einer graphisch fein ausgetüftelten Werbung auf, Form oder Farbe zu sein. Die Einheit von freier und angewandter Kunst steht für ihn fest. Und anders als viele kreative Menschen hat er nie die Notwendigkeit verspürt, sich für einen der Bereiche entscheiden zu müssen, weil sie für ihn keine Gegensätze, sondern vielmehr eine Art Ergänzungsverhältnis darstellen. Nicht selten kommen für ihn die Anregungen für einen graphischen Auftrag, etwa der Entwicklung eines Firmen-Logos, sogar aus der freien Gestaltung. Andere Male bringt ihn eine Auftragsarbeit auf eine bildliche Idee, die er danach in freien Bildkompositionen fortführt. 

Ein ähnlicher kreativer Ansatz war seit Anfang der Zwanziger Jahre im legendären Bauhaus verfolgt worden, das 1919 von Walter Gropius in Weimar gegründet und 1925 aus politischen Gründen nach Dessau verlegt worden war. Künstler aller Sparten sollten in einem Haus zusammen leben und ihre Kreativkräfte einander wechselseitig befruchten: die angewandten Künste und freien Künste im fließenden Übergang. Freie Kunst und gestaltendes Handwerk, Architektur und Kunstpädagogik, Wohnraumgestaltung und die Entwicklung von Industrieformen an einem Ort, an dem das Ziel verfolgt wurde, der ästhetischen Dimension der gegenwärtigen und der zukünftigen modernen Gesell- schaft Rechnung zu tragen. Im Mittelpunkt stand die Einfachheit eines gestalterischen Konzeptes, dessen Verbindung aus formaler Klarheit und funktionaler Sachlichkeit bis heute beispielhaft ist. Völlig selbstverständlich hatten damals bildende Künstler Strukturmuster für Tapeten, die Formen für Kaffeekannen oder Veranstaltungsplakate entworfen. Maler und Architekten hatten ihren Blick gemeinsam auf die Ausgestaltung von Gebäudekomplexen gerichtet, und vom schlichtesten Möbelstück bis zur Typografie in Werbung und Buchdruck war kein Bereich vom kreativen Interesse der Bauhäusler unberührt geblieben. Jochen Stankowski ist seit jeher beeindruckt von diesem ganzheitlichen Gestaltungskonzept, und sein künstlerisches Selbstverständnis hat ohne Zweifel in der Bauhaus-Idee ihre Wurzeln.

Wahrscheinlich hat die Zerschlagung des Bauhauses im nationalsozialistischen Deutschland des Dritten Reiches und die Vertreibung seiner Künstler in die äußere und innere Emigration seine Bedeutung für Jochen Stankowski nur noch gesteigert. 1940, in der Zeit des Zweiten Weltkrieges geboren und aufgewachsen in einer deutschen Kultur, die neben den zerstörerischen Folgen des Kriegsgeschehens auch in den Nachkriegsjahren von plumpen Heldengeschichten, engstirnig-doppelbödiger Moral und romantisch-folkloristischer Fummeligkeit geprägt wurde, verkörperte das Bauhaus und seine klaren, präzisen Formen ein ebenso aufrichtiges wie kraftvolles Gegenbild zum miefigen kulturellen Firlefanz der deutschen Wirtschafts-Wunder-Kultur. Obwohl im Laufe der folgenden Jahre zahlreiche Elemente aus dem kreativen Bauhaus-Repertoire in den kulturellen Alltag Eingang fanden und der Werbung, Architektur oder dem Design allerhand Impulse gaben, stellt Jochen Stankowski verwundert fest, dass das eigentliche Grundkonzept den meisten Menschen bis heue eher fremd geblieben ist. Keineswegs sind die Formen in der modernen Konsumkultur in den letzten Jahrzehnten klarer und einfacher geworden. Vielmehr machen sich eine Verspieltheit und Schwammigkeit breit, welche die Kultur als Ort einer verwirrenden Unübersichtlichkeit und Fetzenhaftigkeit erscheinen lassen.

Während in dieser Situation Künstler und Werbegestalter verzweifelt mit verrückten Motiven und plumpen Tricks nach Auffälligkeit und Aufmerksamkeit zielen, heben sich die Zeichen-Konstruktionen Jochen Stankowskis auf erstaunliche Weise aus dem gigantischen Wald der gängigen Bild- und Zeichenproduktionen ab: unübersehbar durch ihre formale Reduziertheit und nahezu magisch in ihrer Klarheit. Obwohl die Zeichen und Formen, die er verwendet, nüchtern und abstrakt aussehen, beginnen sie doch alle in einer konkretenAnschau- ung der Dinge. Ein Kreis – das ist die Welt, eine Arena, ein Knopf, ein Hut, ein Augapfel, der Lebenszyklus. Ein Quadrat – das ist eine Schachtel, eine Bodenplatte, ein Haus, ein Grundriss, der unbekannte oder bekannte Raum, eine Auto-Batterie. Die Reihung zahlreicher breiter Striche oder schmaler Flächen ist nicht einfach eine gewitzte Spielerei – sie folgt dem Blick auf eine Treppe, einen Zaun, dem Rhythmus eines bewegtes Hintereinanders. Das Zueinander mehrerer Flächen-Balken ist kein bloßer abstrakter visueller Vielklang – es zeigt mögliche Verhältnisse von Dingen oder Personen: Annäherungen und Entfernungen, Miteinander und Gegeneinander, Berührung und Abstoßung. Und ein Strahl aus Linien – das sind Blitze, die Verzweigungen eines Weges, ein Baum, das in alle Richtungen wachsende Lebendige. Jochen Stankowskis Zeichen und Form-Verhältnisse gehen mitten aus dem Lebens-Alltag hervor, und in diesen Alltag gehen sie auch wieder hinein. Es ist nur eine Sache der Aufmerksamkeit und Konzentration, seine grafischen Reduzierungen überall im Alltag entdecken zu können. Indem es gelingt, einmal für einem Moment von der konkreten Be-Deutung der Dinge abzusehen und ihr Formprinzip zu entdecken. Indem es gelingt, in einer Straße mehr als nur eine Fahrbahn und einen Durchgang zu erkennen, sondern ein phantastisches Gefüge. So wie es manchmal beim Duschen geschieht, wenn der Blick auf die scheinbar immer gleichen Kacheln am Fußboden plötzlich ein verblüffendes, nie gesehenes Muster ausmacht, und man für eine Weile gedankenverloren darauf starrt wie auf das endlich erspähte Geheimnis der Welt.

Für Jochen Stankowski sind es häufig Licht- und Schattenmomente, die mit solchen graphischen Entdeckungen verbunden sind. Sehr schön ist das in seinen Fotografien dokumentiert, ausnahmslos Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Sie entstehen fast beiläufig, am Rande seiner Tage, während eines Spaziergangs zum Beispiel. Er hält auf diesen Fotos (siehe unten) stille Beobachtungen fest, Material- und Strukturerkundungen. Blicke, in denen er irgendwo in der Wirklichkeit seine „inneren" Formen sieht, im Augenblick einer intensiven Empfindung. Als hätte er im Bauplan der äußeren Wirklichkeit seinen eigenen inneren Bauplan entdeckt. In diesem Moment steht für ihn fest, was Goethe so treffend formulierte: „Nichts ist innen, nichts ist außen, denn was drinnen, das ist draußen“. Überall lässt sich diese Entdeckung machen, in der Schichtung aufeinander gestapelter Holzlatten ebenso wie im Strukturgeflecht einer Kabeltrommel, dem Bauprinzip einer alten Steintreppe, der Ziegelanordnung eines Daches, einer Mauer, den Gitterstäben eines Geländers und den Schattenformen, die ein Gebäude auf die Wand eines anderen „wirft". Am Himmel, im Sand, beim Blick auf Gebäude und Materialanhäufungen – überall stößt man auf Struktur. Besonders interessant sind für Jochen Stankowski die Stellen, wo Verrottendes und neues Wachstum aufeinander treffen, wo Dinge und Materialien aufbrechen, wo etwas Neues anfängt. Darin zeigt sich für ihn ein kreatives Prinzip, und das nennt er „hoffnungsvoll". Alles ist ergiebig, und im Laufe der Jahre ist eine umfangreiche Sammlung solcher Fotografien entstanden, auf die Jochen Stankowski immer wieder als Anregung für seine zeichnerischen und malerischen Entwürfe zurückgreift.

Auf den ersten Blick würde man kaum annehmen, dass die Natur einer seiner ständigen Bezugspunkte ist. Doch die reduzierten Formen und Zeichen, die er verwendet, lassen sich zweifellos in der Natur wiederfinden: als Horizont, als Wellenbewegung, als kompakte oder aufgefächerte Pflanzenform, Wolkenformation oder Landschaftsgestalt. Manchmal denkt er sogar, er sei Naturalist. Vor allem bei den Zeichnungen, die er für ein Möbelhaus entwickelte, hat er dieses Gefühl. Darin hat er die Formen und Prinzipien der Natur konzentriert in Zeichen übertragen: die Verästelung von Bäumen und Sträuchern, der gewundene Lauf eines Flusses. Auch in einem Kalender, den er gestaltete, geht es ihm darum, einige grundlegende Prinzipien der Natur zeichenhaft ins Bild zu bringen: die mäandernde Gestalt des Wasserlaufes, den Schwung einer Welle und die Brechung einer Welle, die Gitterstruktur eines glitzernden Kristalls, die Spiegelung (als Linienstruktur) und die Formation von Luftströmungen. Ausgehend von den (fotografisch festgehaltenen) Bildern der Natur arbeitete er zeichnerisch die Entsprechung  einer abstrakten Struktur heraus. „Mit der Zeit wird man schlagend beweisen, dass die ‚abstrakte' Kunst nicht die Verbindung mit der Natur ausschließt, sondern dass im Gegenteil diese Verbindung größer und intensiver ist als je in jüngster Zeit. Die abstrakte Kunst verlässt die Haut der Natur, aber nicht ihre Gesetze. Erlauben sie mir das Wort, die kosmischen Gesetze," beschrieb Wassily Kandinsky diesen Zusammenhang. Und: „Wie still ist ein Apfel in einem Stilleben ... Ein Kreis ist noch stiller. Unser Zeitalter ist nicht ideal, aber unter den seltenen neuen Eigenschaften des Menschen muss man die wachsende Fähigkeit zu schätzen wissen, einen Klang in der Stille zu hören. Heute sagt ein Punkt im Bild manchmal mehr als ein menschliches Gesicht. Ein Dreieck ruft eine lebhafte Erregung hervor."

Fast jede Form, die Jochen Stankowski je gezeichnet und gemalt hat, ist für ihn seit jeher untrennbar mit konkreten Gedanken und Gefühlen verknüpft. Für ihn ist das die wichtigste Voraussetzung seiner malerisch-graphischen Arbeit überhaupt. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, dass es sich bei der Gestaltung mit konstruktiven Elementarformen um eine nüchterne mathematische visuelle Kalkulation handele, folgt er zu allererst seinem Empfinden. Eine graphische Form im Alltag an einem Hausgiebel oder in einer Rohrkrümmung entdeckt, hat für ihn eine Art erotische Qualität. Er ist verführt: durch eine Kante vor dem offenen Himmel, eine Wölbung, den namenlosen Schwung einer Linie. So wie ein menschlicher Körper durch sein Form-Schema „berührt" und Empfindungen hervorruft, können die Formen aller Dinge berühren und Empfindungen hervorrufen. Wir alle tragen solche Form-Schemen in unserer Erinnerung, die je nach Stimmung und Situation unverhofft belebt werden können. Möglicherweise beruht der ganze Zauber einer konstruktiven Gestaltung auf solchen geheimen Mustern, die irgendwann in frühen Kindertagen geprägt werden, wenn sie nicht sogar eine unverwüstliche biologische Konstante des Seelischen darstellen, die sich über Jahrtausende trotz aller sonstigen Verwandlungen in allen Kulturen erhalten hat und zentrale Wirksamkeiten des menschlichen Erlebens maßgeblich prägt. Denn immerhin gibt es das Spiel mit abstrakt-reduzierten Flächen-, Linien- und Punktstrukturen auf den Kalebassen- oder Körperbemalungen der Naturvölker ebenso wie bei den Künstlern aller sogenannten hochzivilisierten Gesellschaften.

Die Idee, die dahinter steckt: dass es grundlegende Form-Elemente gibt, die kulturübergreifend sind. In denen die Menschen sich schon vor Jahrtausenden die ästhetische Formel der Welt vor Augen hielten: als Höhlenmalerei, als byzantinisches Ornament, als indonesisches Textilmuster, als feinen Verzierung auf unzähligen Alltagsgegenständen. Jochen Stankowski spricht von den „Archetypen der Form". Ihm gefällt die Vorstellung, dass die Pfeile und Kreise auf den Kulturgeräten archaischer Völker die selben einfachen Zeichen sind, die er heute in seinen Bildern und Firmen-Logos verwendet. Und dass seine reduzierten Darstellungen eines Hauses, eines Baumes oder einer Liege auch in Afrika von jedem Menschen verstanden werden können. Seine Zeichen sind im wahrsten Sinne des Wortes universell. Nur auf den flüchtigen Blick erscheinen sie intellektuell und schwierig; beim aufmerksamen Schauen stellen sich die Assoziationen wie von selbst ein.

Entgegen der weit verbreiteten Behauptung, dass es sich bei konstruktiven Bildkompositionen um eine in erster Linie intellektuelle Herausforderung handele, beharrt Jochen Stankowski auf der Empfindungsqualität seiner konstruktiven Darstellungen. Dieses Empfinden hat sein Nachdenken über das Gegenstandsfeld, mit dem er sich beschäftigte, maßgeblich bestimmt. Erst allmählich, in beharrlichen Variationen, sind sein Empfinden und das Nachdenken schließlich zu einer klaren Bild-Findung, einem präzisen Zeichen oder einem freien Bildentwurf, aneinander gewachsen. Konstruktive Zeichenentwürfe und Bildkompositionen geschehen fast nie auf einen Wurf, sondern sie sind das Ergebnis eines geduldigen Suchens und Versuchens. "Man muss sich dem Gegenstand aussetzen, immer wieder," sagt Jochen Stankowski. Er arbeitet dabei immer nur an einem Zeichen, nie an mehreren gleichzeitig.

Eines seiner wichtigsten Kreativmittel sind Skizzen. Er zeichnet sie gewöhnlich in ein kleines Notizbuch, in dem er jede bildliche Idee so-gleich festhält, um sie nicht zu vergessen. Denn bildliche Ideen sind flüchtig wie ein Windhauch. „Man muss es sofort festhalten, sonst ist es weg," sagt Jochen Stankowski. In der Skizze fängt an, sich etwas zu entwickeln, aus einem simplen Strich, der zu einem anderen Strich in ein Verhältnis gerät, durchkreuzt von wieder einem Strich, und so weiter. Das Skizzieren geschieht leicht und ungezwungen. „Ich will meine Gedanken, meine Ideen sehen," sagt Jochen Stankowski. „Ich kann meine Ideen nicht allein im Kopf entwickeln. Ich muss sie mit den Augen ‚anfassen' können." Das Skizzieren ist eine Art visuelles Atmen für ihn. Und er fertigt tatsächlich dauernd Skizzen an, so dass er inzwischen über siebzig dieser kleinen Skizzenbücher besitzt. „Ein Gehirn schläft nie, nicht einmal nachts," sagt er. Und dann das Spielerische jeder Skizze: Ideenimpuls und zeichnerischer Strich fast im gleichen Moment. Er spielt gerne mit den Elementen Linie, Kreis und Quadrat herum, um plötzlich auf etwas zu stoßen, das ihn überrascht. Etwas, von dem er überhaupt nicht wissen konnte, dass es dabei herauskommen würde. Etwas, das sich jenseits der bewussten Absicht eingeschlichen hat.

„Zeichne alles auf. Alles, was dir in den Kopf kommt. Schließe nichts aus. Und verwerfe die ersten Ideen, denn auf die kommt jeder," hatte sein Lehrer,  Anton Stankowski ihm gesagt. Gerade das Unfertige hilft den Ideen enorm auf die Sprünge. Manchmal zeichnet Jochen Stankowski auch Ideen nur deshalb auf, um sie zu erledigen und dann im Fortgang auf neue zu kommen. Sein Skizzieren ist zugleich der deutlichste Ausdruck, wie sehr für ihn das freie und angewandte Gestalten eines sind. Alles kommt aus dem selben Ideen-Fluss, dem selben Form-Spiel. Auch wenn er seine Entwürfe im angewandten Bereich inzwischen wie jeder andere Graphiker im digitalen Medium präsentiert, geschieht seine Ideenfindung noch immer über das Skizzieren als traditioneller kreativer Handarbeit. Weil ihm dieses Vorgehen seit Jahrzehnten vertraut ist, weil in seiner Direktheit und in seinen Variationen schneller geht, wegen der körperlich-materiellen Erfahrung bei der Arbeit. Und weil es eine andere Art des bildlichen Denkens möglich macht als die Tätigkeit mit Tastatur, Maus und elektronischem Bildschirm. „Wenn eine Skizze für ihn besonders gelungen ist, möchte Jochen Stankowski den Entwurf auch größer auf der Leinwand sehen. Ein Bild auf der (Lein-)Wand zu haben, heißt für ihn: mit einer Form, einer Idee zu leben. Aber nicht immer funktioniert die Übertragung vom kleinen ins größere Format. „Das Unfertige der Skizze verführt, täuscht," sagt Jochen Stankowski.

„Für jedes Gegenstandsfeld," sagt Jochen Stankowski, „gibt es eine passende Grundform, die den Inhalt bereits in der Form transportiert." Wenn er Firmen-Zeichen für Ärzte oder andere Gesundheitsberufe entwirft, beginnt er zum Beispiel mit der Frage nach den ganz elementaren Erfahrungen dieser Tätigkeiten. Worum geht es? Was steht im Mittelpunkt der gesundheitlichen Arbeit? Der Körper, und der ist rund, ist weich. Jochen Stankowski folgt bei seinen Entwürfen ganz seinen eigenen Empfindungen. „Ich versuche meine persönliche Formenwelt und die Formenwelt des Konstruktivismus in Einklang zu bringen," erklärt er. Wenn er über Strahlen nachdenkt, steht für ihn fest, dass er mit Linien gestaltet. Ist die Kraftkonzentration einer Batterie das Thema, stellt sich nahezu zwangsläufig die Idee eines kompakten Gebildes ein, eines Quadrates. Und um das Charakteristische eines Kindergartens in den Blick zu bringen, ist für Jochen Stankowski unweigerlich das Verhältnis von Groß und Klein der Ausgangspunkt. Dieses Strukturprinzip bezieht der Zeichen-Steller dann auf einen typischen Gegenstand aus dem Alltag, einen kleinen und einen großen Stuhl.

Zu den Formen gehört für Stankowski die Farbe: schwarz. Alle Formen und Zeichen, die er auf Papier bringt, entwickelt er grundsätzlich in Schwarz. Bis heute denkt er, dass er mit Farbe nicht richtig umgehen könne. Die Farbe verwirrt ihn, lenkt ab von der graphischen Grundstruktur seiner Empfindung. Die Grundbedingung aller seiner Kompositionen ist für ihn: sie müssen in Schwarz und Weiß funktionieren. Erst dann kann überhaupt Farbe ins Spiel kommen. „Wenn Farbe, dann später," heißt seine Regel. Oft ist die „Farbe" nur ein sanftes Grau. Wie manche Gegenstandsfelder bestimmte Formelemente allerdings unausweichlich in sich tragen, gibt es auch Gegenstandsfelder, die zwingend Farben aufdrängen, besonders bei der Zeichen-Gestaltung. Das Thema Garten verlangt ein Grün, die Beschäftigung mit Wasser mündet unweigerlich in einem Blau. So folgt auch die Farbe der Bedeutung, der Empfindung. Vor allem aber geht Jochen Stankowski in seiner freien Malerei über den Schwarz-Weiß-Kontrast hinaus. Dort erprobt er die Farben in ihrem Gegeneinander und Miteinander in unterschiedlichsten Konzepten des Zusammenklangs.

Wesentlich in Jochen Stankowskis gestalterischer Arbeit, speziell im angewandten Bereich, ist auch der Gebrauch von Schrift, zumeist eingesetzt in Form einzelner Buchstaben. Jochen Stankowski ist ausgebildeter Schriftsetzer und Typograph, und sehr schnell waren ihm die Buchstaben zu einem selbstverständlichen Element in seinem Formen-Repertoire geworden. Er entwickelte Plakate, auf denen die Schrift das einzige Gestaltungselement ist: agitatorische Werbung als fein ausgetüfteltes Formenspiel. In Bild-Entwürfen konkreter visueller Poesie lässt er die Buchstaben aus der gewohnten Ordnung in eine neue tanzen, um das lineare Sehen zu durchbrechen. Und immer wieder kombinierte er Buchstaben mit konstruktiven Formen, um gewitzte Augensprünge in Gang zu setzen, bei denen formale und inhaltliche Kriterien untrennbar ineinander greifen.

Weniger spontane Virtuosität als die präzise akzentuierte Umsetzung einiger tragender Strukturprinzipien sind die Grundlage in Jochen Stankowskis bildnerischer Arbeit: das Verhältnis von groß und klein, die Beziehung von Ruhe und Unruhe, das Schema einer visuellen Rhythmik und die Regel der Progression, bei der sich ein Element in seinem Verhältnis zum anderen als ein Bewegungs-Schema entwickelt. Er setzt das Mittel der Progression sehr häufig ein: um die Statik unseres gewöhnlichen Sehens zu durchbrechen und weil unsere Wirklichkeit unaufhörlich in Bewegung ist, sogar im Stillstehen. Fast immer baut er gezielt einen „Fehler", eine Unterbrechung, eine Art visuellen Stolperstein in dieses Konstruktions-Schema ein. Bewusst setzt er sich damit von der aus Regelmäßigkeit und Symmetrie geprägten Idee der „perfekten Struktur" eines Max Bill oder Victor Vasarely ab. „Mit den ‚Fehlern' kann ich die Progression durchbrechen und ein neues Prinzip einführen," sagt Jochen Stankowski. Brüche gehören nicht weniger zu unserer Erfahrung als zwingende (und verlässliche) Ordnungsgefüge und Kontinuität. Nicht selten sind es die Brüche, zufällige und unausweichliche Störungen, die eine Entwicklung erforderlich oder möglich machen, eine andere Sichtweise, den Schritt zu neuen Tätigkeiten.

Jochen Stankowskis Zeichen-Setzungen wollen nicht einfach statische Augenmerke sein. Vielmehr wollen sie der bewegten Struktur einer Wirklichkeit Rechnung tragen, deren Gestalten unaufhörlich in Bewegung und Verwandlung sind. Gestaltbildung und Gestaltbrechung gehören unauflösbar zusammen; sie bilden die Struktur, in der alle Dinge, alles Leben erst ihren Sinn erhalten. Beide bestimmen gleichermaßen die Konstruktion, treiben sie voran und halten sie zusammen, als eine Art „lebendiger Kreis", den der Psychologe Wilhelm Salber als eine „ungeschlossene Geschlossenheit" charakterisiert und dessen Konstruktions-Problem alle Bewegung und Entwicklung überhaupt erst in Gang hält. Es gehört zu den Meisterstücken der konstruktiven Kunst, dass es Jochen Stankowski gelingt, diesen komplexen Prozess in einfachen elementaren Zeichen und Form-Verhältnissen sichtbar werden zu lassen. In seinen Zeichen und Form-Entwürfen werden nicht nur einfache Dinge und Lebens-Bezüge sicht- und spürbar, sondern auch, dass in allen Zeichen und Lebens-Gestalten Spannungsverhältnisse und Parodoxien wirksam sind. Seine Zeichen sind nach dem Konstruktionsprinzip hergestellt, das alle Gestalten unserer Wirklichkeit hervorbringt: in ihrem Zustandekommen steigern sich die ungeschlossene Geschlossenheit und der Entwicklungsdrang alles Lebendigen zu einer Einheit, die unaufhörlich bekannte und neue Sinngestalten in die Welt bringt.


„Die Dialektik des Sehens" baut auf visuellen Gegensätzen auf," sagt Jochen Stankowski.  Dazu hat er vor Jahren ein kleines Buch veröffentlicht: eine anschauliche Studie über die Vielfalt der Möglichkeiten, die sich aus dem Gegen- und Miteinander eines begrenzten Repertoires farbiger Formelemente ergibt. Was bedeutet Freiheit im Rahmen  einer gegebenen Struktur mit festgelegten Grundelementen? Will sagen: der Spielraum des konstruktiven Künstlers spiegelt genau die Freiheit, die auch das Leben bietet. Bei all den Gegensätzen, die in seinen konstruktiven Gestaltungen zusammen kommen, gilt für Jochen Stankowski grundsätzlich, dass die Formen im Gleichgewicht sein müssen. Die Regel heißt: Anordnung aller Teile in einem ausgewogenen Gleichgewicht und ihre Unterwerfung unter das Ganze. Erst dann sind eine Bildkomposition und der Entwurf eines aus mehreren Elementen bestehenden Zeichens gelungen. Das Gleichgewicht ist das Wichtigste, und für Jochen Stankowski hat das sehr viel mit Symmetrie zu tun. Das Ying-Yang-Zeichen, das in der chinesischen Philosophie der sichtbare Ausdruck für das kosmologische Prinzip ist und dem alle Wesen zugeordnet werden, erscheint ihm als ideale zeichenhafte Formgestalt dieser Ausgewogenheit: eine in sich ruhende, geschlossene Form, in der die bewegte Einheit der Gegensätze zum unmissverständlichen Bild geworden ist. Allerdings betont Jochen Stankowski, dass ihm die ostasiatische Denkweise bei aller Faszination bis heute fremd geblieben ist. Er bewundert die präzisen Bildzeichen der japanischen oder chinesischen Schrift. Und er liebt die konzentrierte Kraft der Kalligraphie, in der Bewegungsspur und Zeichenhaftigkeit eine scheinbar selbstverständliche Verbindung eingehen. Ganz besonders im Zeichen des in seiner Offenheit geschlossenen Kreises.

Jochen Stankowski lässt keinen Zweifel daran, dass seine eigenen Zeichen-Findungen und konstruktiven Bildkompositionen ganz in der abendländischen Kultur verwurzelt sind, beflügelt vom freien konstruktivistischen Geist der russischen Avantgarde, der radikalen Modernität der niederländischen De Stijl-Bewegung und der experimentierfreudigen Systematik des deutschen Bauhauses. Was seine gestalterische Konzeption allerdings mit dem asiatischen Denken verbindet, sind die Idee des fein ausbalancierten Gleichgewichts der Elemente und die Überzeugung, dass es zwischen der freien und der angewandten Gestaltung keinen grundlegenden Unterschied gibt. Es geht darum, alle Formen der Welt und des menschlichen Lebens unter einem ästhetischen Gesichtspunkt zu sehen und zu verstehen. Die (reduzierten) Formen, auf die Jochen Stankowski sich verlässt, sollen überall und immer ihre Gültigkeit haben. Seiner Vorstellung gemäß soll Kunst nicht nur das Andere, das dem Alltag Entgegen-Stehende darstellen, sondern zum Teil des Alltags werden. Der Alltag selber soll Ort künstlerisch gestalteter Zeichen sein: im gezielten kommunikativen Prozess visueller Bildträger, im Ornament an Dingen und Gebäuden, in spielerischen optischen Belebungen und in freien experimentierend-offenen Bildmomenten. Ein Schlüssel zur seelischen Ausgewogenheit ist eine Ausgewogenheit der Formen, die den Menschen im äußeren Raum der Kultur begegnen.

Ein Dilemma in der gegenwärtigen modernen Konsumkultur besteht gerade darin, dass die Menschen vor lauter materiellem und optischen Firlefanz in den Zustand einer gigantischen Unübersichtlichkeit, Verwirrung und Zerrissenheit hineingeraten sind, der sie vom Sinn für die einfachen Formen des Lebens und seelischen Gleichgewichts weit entfernt hat. Der Mangel an Klarheit und einfachen (Lebens)Konzepten ist offensichtlich: in den individuellen Ideengebäuden so sehr wie in den praktischen Alltagsformen, den persönlichen ästhetischen Vorstellungen so sehr wie in den öffentlichen ästhetischen Inszenierungen der modernen (westlichen) Kultur. Wie anders ließe sich erklären, dass die Menschen in diesen Regionen sehnsüchtig-verzweifelt nach ostasiatischen Feng-Shui Konzepten greifen oder verklärt-begeistert auf die gestalterische Einfachheit fremder Völker starren, denen sie ansonsten seit Jahrhunderten nicht den Hauch von Respekt entgegen bringen. All die ablenkenden Formfummeleien und schrillen Farben der modernen Konsumkultur abstreifen und sich auf einfache Formen, ihre Maßverhältnisse, Rhythmen und Ausbalancierungen zu konzentrieren, wie sie auf den Bildern Jochen Stankowskis zu sehen sind – auch das wäre mög-licherweise ein Weg aus dem gegenwärtigen visuellen Chaos heraus. Selbst wenn oder gerade weil die Reduziertheit seiner Bildwerke auf den ersten Blick so schwierig, so nüchtern erscheint.

Jochen Stankowskis Bilder und Zeichen drängen nichts auf und sind dennoch zwingend. Sie lassen den Betrachtern größte Offenheit und sind keineswegs unverbindlich und schwammig. Er nennt sich selbst einen Zeichensteller, weil er die Zeichen einsetzt, um die Aufmerksamkeit darauf zu ziehen, das Sehen zu lenken und sanft zu beeinflussen. Der Zeichensteller als jemand zwischen Fallensteller und Weichensteller. Das kann für Jochen Stankowski prinzipiell überall passieren, mit einem Zeichen-Logo nicht weniger als mit einer bemalten Leinwand oder der Umschlag-Gestaltung eines Buches. Kultur ist für Jochen Stankowski überall; es ist das alles umspannende Etwas, in dem Alltag und Kunst fließende Bereiche darstellen. Man kann sie nicht voneinander trennen. Und deshalb kann man auch den freien und den angewandten künstlerischen Bereich, den freien Maler und den Gebrauchsgraphiker Jochen Stankowski nicht voneinander trennen. Wenn sie ohnehin unauflösbar miteinander verflochten sind, erscheint es Jochen Stankowski nur folgerichtig, diesen Bezug bewusst auszuspielen.

Die Konstruktivisten der russischen Avantgarde hatten dieses allumfassende Kreativitätsverständnis nach der russischen Revolution einige Jahre vorbildlich umgesetzt. Selbst in ihren agitatorischen künstlerischen Gestaltungen war dieser Zusammenhang noch sichtbar geworden. Das künstlerische Spiel mit den (freien) Formen hatte sich für eine Weile überall im Alltag der neuen russischen Gesellschaft eingenistet und die Erfahrung breiter Bevölkerungsschichten belebt. Erst mit dem Umschlagen der Revolution in zunehmend repressive Tendenzen waren die künstlerischen Formen und damit auch der Alltag der russischen Gesellschaft wieder in die Enge geraten. Ein weiteres Schicksal der Kreativität ist ihre Entfaltung in der modernen Konsumgesellschaft, in der zwar alle Formen und Spielarten möglich, doch durch eine gigantische Belagerung von Bildmotiven, Farb- und Formspielen die Augen nicht mehr zur Ruhe kommen und Freiheit und Schwammigkeit nicht voneinander zu unterscheiden sind. Die moderne Konsumkultur ist ein Ort völliger ästhetischer Freiheit, doch paradoxerweise ist das gleichbedeutend mit einem Formen- und Farbenchaos, in dem plumpe Reize, formale Fetzenhaftigkeit und eine kompositorische Schludrigkeit die Szene beherrschen. „Die Kultur und ihr Alltag brauchen künstlerisch-gestalterische Sorgfalt," sagt Jochen Stankowski, befremdet von der gegenwärtigen Entwicklung. Die Werbung geschieht auf dem Niveau von Entertainment, als visuelle Mogelpackung, die jede Seriösität abgestreift hat. Und die bildende Kunst hat das gelebte Leben als Bezugspunkt ebenso aus dem Blick verloren wie die Architektur. Überall wird das Prinzip des Immer-Neuen wie ein heiliges Gesetz beschworen, und der Hinweis auf die Ideologie eines solchen Denkens ist im allgemeinen Geschrei der Kultur nicht einmal mehr ein stilles (kritisches) Bedenken wert.

Inmitten dieser Tendenz muss Jochen Stankowskis Werk unweigerlich im Abseits stehen. Von selbstgefälligen Kunsthistorikern und Kunstvermittlern als unzeitgemäß und überholt klassifiziert und abgetan. Hatten wir schon! Kennen wir schon! Ist doch erledigt! Als könne irgendetwas von Substanz je erledigt und überholt sein. Im Blick eines auf Neuheit und schräge Effekte zielenden Kunst- und Kreativ-Verständnisses hat Jochen Stankowskis in der Tat nichts zu bieten. Ihn interessiert das zeitgemäße modische Künstlergeschwätz ebenso wenig wie die tristen Kämpfe verbissener Theoretiker, die mit der Beschwörung des früheren Avantgarde-Gedankens den Blick auf die tatsächlichen Wirkungszusammenhänge der Kunst und Kreativität verstellen. Er weiß, dass die Forderung nach unaufhörlicher Neuheit eine lächerliche Formel und eine der größten Täuschungen in der Kunstbetrachtung der letzten Jahrzehnte ist. Jochen Stankowskis kreative Stärke liegt stattdessen gerade darin, eine derartige Denkungsweise links liegen zu lassen. Sein Bekenntnis zum künstlerischen Geist des Konstruktivismus ist ungebrochen, er ist ein echter Überzeugter. Beharrlich setzt er auf die Beständigkeit einer Bildkonzeption, die in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts neu und radikal war, und die heute zwar nicht mehr neu, aber immer noch radikal ist. Aktueller Konstruktivismus – das ist auch heute der Versuch, durch Reduziertheit Aufmerksamkeit und Konzentration zu schaffen.

Jochen Stankowski reduziert die Dinge nicht selten bis an die Grenze des Fast-Banalen. „An dieser Grenze halte ich mich am liebsten auf. Wenn man dort zu einer bildlichen Aussage kommt, ist sie am eindringlichsten," sagt er. Er hält dabei an den klaren Formen der konstruktiven Bild-Findung fest und zeigt ihre Aktualität in unterschiedlichen, ganz eigenen Variationen. Das Neue, so zeigt er, entsteht aus der Variation. Es wächst aus dem Beständigen, indem man sich immer wieder intensiv mit den bekannten Elementen beschäftigt. Es ist oft nur eine Nuance, ein leichtes Verschieben der Formen und des Gleichgewichtes. „Ich sehe die Dinge, die ich immer gesehen habe, plötzlich, als hätte ich sie noch nie gesehen. Ich kann manchmal einen fremden Blick haben," sagt er. So gestalten und entwickeln  sich Jochen Stankowskis (Bild-)Ideen häufig in Zyklen. Zwei Quadrate, ein Dreieck: das spielt er in unterschiedlichsten Stellungen durch. Oder vier Striche, in verschiedenen Stellungen zueinander. Oder mehrere schmale Flächen, gerade und gebogen, immer wieder anders zusammen gebracht. „Ich lote alle Variationsmöglichkeiten aus, die ganze Bandbreite," sagt Jochen Stankowski. Erst wenn das geschehen ist, ist er das Thema los. "Das Thema ist erledigt, wenn es keine Variationen mehr gibt," sagt er. Wie weit man in der Variation kommt, das ist für ihn die Herausforderung. Und er erklärt: „Da gibt es fast einen prinzipiellen Zwang: so weit zu gehen, wie man mit ein paar reduzierten Elementen kommt. Erst dann ist etwas anderes nötig, etwas anderes möglich, ein neuer Schritt." Das klingt plausibel. Und es gehört zu den ehrlichsten und klügsten Dingen, die man überhaupt über Kunst sagen kann. Jochen Stankowski ist, wie wir sehen, einer dieser Menschen, die geduldig bei einer Idee, bei Ihrer Sache bleiben. Darin wird er niemals Ruhe haben. Aber darin ruht er zweifellos in sich selbst.    

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